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Kurdistan-Irak August 2014

Kindheit im Ausnahmezustand

 

 

Notfallpädagogik für irakische Binnenflüchtlinge

Auf den Häusern der eroberten Dörfer und Städte wehen ihre schwarzen Fahnen. Binnen weniger Tage eroberte im Sommer 2014 die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) weite Siedlungsgebiete von Jesiden und Christen. In den besetzten Gebieten kam es zu Vertreibungen, Verschleppungen und Massenhinrichtungen. Die Schreckensherrschaft der IS-Dschihadisten trieb hunderttausende Menschen in die Flucht. Nach tagelangen Gewaltmärschen kommen viele Flüchtlinge in der kurdischen Provinzhauptstadt Dohuk im in der Autonomen Region Kurdistan im Irak an. Hier leben die Flüchtlinge in drangvoller Enge in etwa 800 Schulen und Kulturzentren, in unzähligen Rohbauten und provisorischen Zeltlagern sowie in Notunterkünften entlang der Straßen. Kaum einer der Binnenflüchtlinge konnte viel mehr als sein Leben und eine Plastiktüte mit Habseligkeiten retten. Weit über die Hälfte sind Kinder sind durch ihre Erlebnisse schwer traumatisiert worden.

Notfallpädagogik hilft traumatische Blockaden zu lösen

Seit dem Jahresende 2013 unterstützen die Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners in Kooperation mit UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, syrische Flüchtlinge im Nordirak. Infolge der aktuellen Ströme an Binnenflüchtlingen führte die Hilfsorganisation vom 21. August bis 3. September 2014 eine notfallpädagogische Krisenintervention für etwa 1500 jesidische und christliche Kinder und Jugendliche in der Region Dohuk durch.

Notfallpädagogik will traumatisierten Kindern und Jugendlichen mit Methoden der Waldorfpädagogik helfen, ihre traumabedingten Erstarrungen zu lösen und ihre Erlebnisse zu verarbeiten. Durch die Aktivierung und Stärkung der Selbstheilungskräfte wird der Entwicklung von Trauma-Folgestörungen entgegengewirkt. In künstlerischen Aktivitäten können traumatische Erlebnisse nonverbal zum Ausdruck gebracht und verarbeitet werden. Bewegungsspielen helfen, den Schrecken, der buchstäblich in die Glieder gefahren ist und zu Erstarrungen und Bewegungsstörungen führt, zu lösen. Durch therapeutischen Handarbeit oder Finger- und Fadenspiele soll dem traumabedingten Hilflosigkeitserlebnis die Erfahrung der Selbstwirksamkeit und Selbstkontrolle entgegengesetzt werden1.

In der Dohuker Schule Blend treffen die Notfallhelfer auf die siebenjährige Jasmin2 aus dem Dorf Sujar. Sie ist in ständiger Alarmbereitschaft, leidet unter Angststörungen, Panikattacken und Albträumen, spielt nicht mehr und hat sich seit ihrer Flucht sozial völlig zurückgezogen. Meist kauert Jasmin ängstlich unter einer Decke im dunklen Klassenzimmer, in dem sie jetzt mit ihrer Familie lebt. Sie weigert sich an unseren Aktivitäten teilzunehmen. Als einige Notfallpädagogen das Zimmer auf Bitte des Onkels betreten, gerät Jasmin in Panik. Die pädagogischen Notfallhelfer entschließen sich zum sofortigen Rückzug, um das Sicherheitsgefühl des Kindes in seinem Zimmer nicht weiter zu beschädigen. Die Mutter wird gebeten, Jasmin behutsam herauszuführen und zusammen mit dem Kind den Filz-Aktivitäten der übrigen Kinder zuzusehen. Nach einer Weile nähert sich ein pädagogischer Betreuer dem immer noch ängstlich zusammengekauerten, verstörten Kind und bietet ihm Filzmaterial an, welches Jasmin in ihren Handflächen langsam und verschüchtert zu einer Kugel formt. Plötzlich richtet sie sich auf, ihre Körperhaltung und ihre Gesichtszüge sind jetzt bereits merklich entkrampft. Bald darauf lässt sich Jasmin aus den Armen der Mutter in den Kreis der anderen Kinder integrieren. Schließlich stellt sie sich sogar in den Kreismittelpunkt und trägt ein Lied vor. Mit strahlendem Gesicht kehrt sie anschließend in den Kreis zurück. Ihr strahlendes Lächeln überträgt sich auch auf die anwesenden Mütter. Freude heilt.

Traumatisierte Kinder benötigen sichere Orte

Khanke ist ein kleines Dorf am Mossul-Staudamm etwa eine halbe Autostunde von Dohuk Richtung Seemel entfernt. Am Rand des Dorfes hat sich eine provisorische Notunterkunft gebildet, die über 5000 Flüchtlinge beherbergt. Seit zwei Wochen unterhält der kurdische Kaufmann Ali Zdin, der gegenüber dem Camp lebt, das Lager aus eigenen Mitteln. Außer fünf UNHCR-Zelten hat er für alle anderen Zelte gesorgt und die Menschen mit drei Tonnen Reis pro Tag notdürftig ernährt. Wasser wird täglich mit Tanklastwagen zum Camp gefahren. Es reicht knapp zum Trinken, aber nicht für hygienische Zwecke oder zum Waschen von Kleidung. Toiletten gibt es keine. Seit zwei Tagen kümmern sich jetzt auch zwei Ärzte um die vielen Kranken und Verletzten. Ali Zdin ist kein Einzelfall. Die Hilfe und Solidarität für die Flüchtlinge aus freier Initiative einzelner Menschen ist groß. Nur so konnte bisher eine humanitäre Katastrophe einigermaßen verhindert werden.

Wie alle Traumaopfer benötigen auch die etwa 2500 Flüchtlingskinder von Khanke zur Verarbeitung ihrer Traumata Orte der Sicherheit und Geborgenheit. Dabei kann es sich um äußere Orte, innerseelische Orte, aber auch um den eigenen Körper handeln. Ohne eine Grundsicherheit können traumatische Erfahrungen nicht überwunden werden.

Das notfallpädagogische Kriseninterventionsteam errichtete auf freiem Feld bei Temperaturen von etwa 45 Grad ein offenes Kinderschutzzentrum (Child Friendly Space) für täglich bis zu 800 Kinder und Jugendliche. Der Platz wurde für die Zeit der Intervention abgegrenzt und gesäubert. Die notfallpädagogische Arbeit begann mit einem gemeinsamen Anfangskreis, in dem rhythmische Übungen durchgeführt, Lieder gesungen und ein Besinnungsspruch gesprochen wurden. Dann folgten acht Workshops mit jeweils über 100 Kindern oder Jugendlichen. Zum Abschluss des Tages wurden die verschiedenen Gruppen dann wieder zu einem großen Abschlusskreis zusammengeführt, der spiegelbildlich zum Anfangskreis aufgebaut und gestaltet wurde. Unzählige Erwachsene umsäumten das abgegrenzte Arbeitsfeld und bildete einen weiteren Schutzraum für die Aktivitäten der Kinder. Viele von ihnen reihten sich in die pädagogische Arbeit ein, malten, filzten und rhythmisierten wie ihre Kinder. Auch die Eltern sind traumatisiert und benötigen Hilfe.

Pädagogische Erste Hilfe lokal vernetzt

Die zahlreichen traumapädagogischen Maßnahmen wurden von lokalen Helfern unterstützt, die theoretische und praktische Schulungen in Notfallpädagogik und Traumatologie erhielten.
Das lokale Notfallteam wird von den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners unterstützt, die notfallpädagogischen Aktivitäten in der Region Dohuk fortzusetzen.

Bernd Ruf

 

Anmerkungen:

Dem notfallpädagogischen Kriseninterventionsteam gehörten an: Stefanie Allon-Grob (Kleinkindpädagogin), Lydia Behrend (Rettungsassistentin), Zoe Besand (Kleinkindpädagogin), Siri Hauser (Koordinatorin), Dr. Bärbel Irion (Ärztin, Psychotherapeutin), Irina Jankowski (Waldorfpädagogin, Kunsttherapeutin), Elisabeth Mall (pädagogische Assistentin), Lukas Mall (Koordinator), Jörg Merzenich (Heilpädagoge), Reinaldo Nascimento (Waldorfpädagoge, Erlebnispädagoge), Bernd Ruf (Einsatzleiter, Sonderpädagoge), Caspar Schwedes (Erlebnispädagoge).

1.       Niemeijer, M. (2011): Diagnostik. In: Niemeijer, M. et al. (2011): Entwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Medizinisch-Pädagogische Begleitung und Behandlung. Dornach. 77-101.

2.       Alle Namen wurden aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes verändert.

Unser Dank für die Unterstützung unseres Einsatzes gilt dem Bildungsministerium der Regionalregierung der autonomen Region Kurdistan im Irak, der Vertretung der Regionalregierung der autonomen Region Kurdistan im Irak in Berlin, dem Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland, der Repräsentantin der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners im  Nordirak, Nesreen Bawari, allen kurdischen Freiwilligen, die unsere Arbeit mitgetragen haben, sowie dem Bündnis „Aktion Deutschland hilft“.

Danken möchten wir auch allen Spendern, die die notfallpädagogische Krisenintervention im Irak ermöglicht haben.

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