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Der Mensch ist das Urbild der Schöpfung.

Der heute gängigen Auffassung entspricht es, den Menschen als höher entwickeltes Tier, als Endprodukt der Evolution zu betrachten. Wenn man aber die physiologische und biographische Entwicklung eines einzelnen Menschen mit derjenigen eines höheren Säugetieres vergleicht, kann man Phänomene entdecken, die Anlaß dazu geben, die Gültigkeit dieser Theorie in Frage zu stellen. Universalität, Anpassungsfähigkeit, bewußte und schöpferische Erfindungsgabe gehören zu den ur-menschlichsten Qualitäten. Während die Tiere Wunder der Spezialisierung sind, zugeschnitten auf ganz bestimmte Lebensbedingungen, trägt der Mensch wie konzentriert alle Möglichkeiten in sich. Durch die verhältnismäßig langwährende Entwicklung (Kindheit) sind Menschen die wandlungsfähigsten und beweglichsten Bewohner der Erde. In diesem Sinne ist der Mensch Ur-Bild der Schöpfung.

"Was die Natur durch ihre eigenen Kräfte hervorbringt, muß von den Menschen aus ihrer eigenen Natur heraus bewußt hervorgebracht werden" (1). Auf diese Weise beschreibt Rudolf Steiner die einzigartige Beziehung des Menschen zur Natur und seinen Platz in der Welt. Durch jeden Menschen kommen die der Natur eigenen archetypischen Qualitäten zu einem individuellen Ausdruck und können gleichzeitig ins Bewußtsein gebracht werden. In den Worten von Teilhard de Chardin (2) lautet das: "Im Bewußtsein jedes einzelnen hat die Evolution eine Wahrnehmung ihrer selbst". Die Fähigkeit, durch eigene Denkaktivität bewußt Erkenntnisse zu erhalten, macht das besondere Wesen des Menschen aus.

In früheren Zeiten wurde die Beziehung zwischen dem Makrokosmos und dem Mikrokosmos des Menschen auf instinktive Weise verstanden. Heute können wir bewußt wiederentdecken, wie die Prinzipien des Kosmos im ganzen Menschen in individualisierter Form erscheinen. Wir können also die Dichotomie von Natur und Mensch überwinden. Die Evolution von Welt und Mensch gehören zusammen. "Der Mensch ist nicht das Ziel der Evolution, aber seit ihrem Beginn in ihr enthalten" (3).

Ein Sprichwort lautet: "Menschen haben, was Tiere sind". Was Tiere mit ihren Klauen, Flügeln, ihren Krallen und Flossen oder aus der Herde, dem Schwarm, der Kolonie heraus tun, machen Menschen mit Werkzeugen, Technologie und Kultur. Goethe (4) hat die Beobachtung beschrieben, daß Tiere für das Leben durch ihre Anatomie belehrt werden, während der Mensch seinen Organen erst beibringen muß, wie man auf die Erfordernisse des Lebens antwortet. Das Verhalten der Tiere ist zumeist instinktiv; wie sie leben, wie sie sich ernähren oder verteidigen, ist durch ihre Konstitution determiniert. Tiere sind genial in verschiedenen Gebieten, aber einseitig in ihren Talenten. Ein Biber kann seine Ingenieursfähigkeiten zum Dammbau benutzen, ein Webervogel kann nur eine Art hängender Nester bauen, ein Jaguar kann nicht grasen, ein Adler kann keine Samen knacken.

Menschen können alle diese Dinge tun, im wesentlichen mit Hilfe von Werkzeugen oder Techniken. Was ein Mensch alleine nicht erreichen kann, kann eine Gruppe tun. Sprache, Sozialstrukturen und alle andere Formen der Kultur befähigen uns, zusammenzuarbeiten. Der Mensch verbindet alle Fähigkeiten und Qualitäten, die einseitig in den verschiedenen Tieren auf ihre unverkennbare Weise vorhanden sind. Dadurch ist der Mensch universeller als alle anderen Lebewesen. Lernen Kinder die Tiere auf solche Art kennen, kann daraus ein gesunder Sinn für die ihnen gegenüber bestehende Verantwortung erwachsen. In der Oberstufe lernen die Schülerinnen und Schüler die komplexen Beziehungen der Tiere mit ihrem Biotop, ihrer ökologischen Situation kennen.

Tatsächlich tragen die Menschen die Qualitäten der ganzen Welt als Potential in sich. Die Gesetze der Mineralwelt drücken sich in den physischen Körpern aus, so z.B. Knochen und aufrechte Haltung das besondere Verhältnis zu den Gesetzen der Schwerkraft. Durch unseren Organismus (Verdauung, Wachstum, Atmung, Reproduktion) sind wir mit Lebensprozessen, die der Pflanzenwelt eigen sind, verknüpft. Gemeinsam mit der Welt der Tiere leben wir im empfindenden Bereich der Nerven-Sinnes-Organisation, der Instinkte, Triebe und der Bewegungsfähigkeit. Indem die Schülerinnen und Schüler diese Zusammenhänge kennenlernen, können sie diese fortwährend mit den eigenen Erfahrungen verbinden.

Menschen charakterisieren sich durch ihre Offenheit – und dies besonders in der Kindheit. R. Steiner hat das kleine Kind oft als "ganzes Sinnesorgan" beschrieben5. Deshalb ist der bildende Einfluß der Umwelt auf das Kind enorm groß. Relativ wenig ist bereits genetisch determiniert. Fast alle Verhaltensweisen und ein großer Teil der feineren physiologischen Entwicklung wird durch Interaktion mit der Umwelt erworben. Da jedes Kind mehr ist als Körper und Seele, da es ein eigenes geistiges Wesen mit einer einmaligen Biographie ist, drückt sich diese Interaktion jeweils verschieden aus. Es ist das menschliche Ich, das den ganzen Kosmos urtypischer Potentiale in sich trägt. In welchem Umfang dieses Potential tatsächlich zur Erscheinung kommt, ist individuell. Nur eine Umwelt und eine Erziehung, in der Bewußtsein dieser geistigen Qualitäten lebt, kann dem Menschen dazu verhelfen, das volle Potential auszuschöpfen.

Das Kind braucht also andere Menschen als Vorbilder, Menschen, die sich ihres moralischen Einflusses bewußt sind. Ein Kind, welches in einer moralischen Umgebung aufwächst, lernt, sich der Umgebung gegenüber moralisch zu verhalten. Jeden Morgen sprechen die Schülerinnen und Schüler der Waldorfschulen einen Text, in welchem die spirituelle Verbindung der Menschheit mit den Reichen der Natur zum Ausdruck kommt.

Martyn Rawson

1) Rudolf Steiner, Vortrag vom 12. Oktober 1905 in Berlin
2) Teilhard de Chardin, The human being in the cosmos, 1959
3) Andreas Suchantke, Partnerschaft mit der Natur, 1993, 297
4) J.W. Goethe, Brief an W. von Humboldt vom 17.03.1832
5) R. Steiner, Die Erziehung des Kindes (1907), Dornach 1988

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